UKE-Professor über Pflege: Vom Applaus alleine kann man nicht leben - Hamburger Abendblatt

2022-11-07 15:24:30 By : Mr. Tom Li

Kämpft gegen den Pflegenotstand in deutschen Krankenhäusern: Prof. Dr. Dr. Hermann Reichenspurner, Direktor der Klinik und stellv. Ärztlicher Leiter am Universitären Herz- und Gefäßzentrum des UKE.

Pflegekräfte in Hamburgs Kliniken müssen deutlich besser bezahlt werden – mindestens 20 bis 30 Prozent mehr!

Hamburg.  Als Mediziner und Arzt, der seit über 35 Jahren im Gesundheitssystem tätig ist, möchte ich nur eines: möglichst vielen Patienten so gut, so schnell und so schonend wie möglich helfen. Bis zum Frühjahr 2020 ging das eigentlich ganz gut, trotz einiger verbesserungswürdiger Kritikpunkte (z. B. bessere Vergütung im Pflegeberuf), auf die wir Mediziner immer wieder aufmerksam machten.

Dann kam die Corona-Pandemie mit einer extrem starken Belastung unseres Gesundheitssystems. Zahlreiche Intensivbetten mussten für schwer kranke Beatmungspatienten frei gehalten werden. Auf geplante Operationen musste zum Teil ganz verzichtet werden. Die schwerste Arbeit hierbei verrichteten unsere tollen Pflegekräfte.

In dicker Schutzkleidung, mit FFP2-Maske und Visier mussten sie die schwer kranken Patienten versorgen und behandeln – eine unglaubliche Mehrbelastung für die Pflege. Dafür gab es berechtigterweise viel Applaus von den Menschen draußen. Vom Applaus allein kann man aber nicht leben.

Es gab wohl selektionierte Einmalzahlungen in Form von sogenannten Corona-Pauschalen, die sehr verzögert und nur an einen Teil der Pflegekräfte ausgeschüttet wurden. Dies wiederum führte in vielen Kliniken und Abteilungen zu großem Unmut, weil viele fleißige Pflegekräfte diese Einmalzahlungen trotz des Kontaktes mit Corona-Patienten nicht erhielten. Frust und Arbeitsbelastung führten dazu, dass zusätzlich zu dem bereits sehr knappen Personal im Bereich der Pflege viele gute und motivierte Pflegekräfte die Kliniken verließen.

Obwohl sich die Situation auf den Intensivstationen aufgrund der Pandemie wieder deutlich entspannt hat, hat sich die Situation im Bereich der Pflege nicht gebessert. Derzeit sind ca. 30 bis 40 Prozent aller Intensivbetten in Deutschland gesperrt, auch in Hamburg – wohlgemerkt nicht wegen Corona, sondern wegen Personalmangels! Erstaunlicherweise wird darüber öffentlich wenig gesprochen. Unsere Gesundheitspolitiker kennen nach wie vor nur Corona, obwohl die Pandemie in vielen europäischen Ländern zu keinerlei Einschränkungen mehr führt.

In München lief das Oktoberfest mit über fünf Millionen Besuchern ohne Maske auf engem Raum. Die Infektionszahlen sind natürlicherweise gestiegen, aber es kam keineswegs zu einer Überlastung der Intensivstationen in München – Gott sei Dank! Es wird Zeit, dass sich unsere Gesundheitspolitiker um die wirklichen Probleme der Krankenhäuser Gedanken machen, und zwar schnell: Wir müssen die verloren gegangenen Pflegekräfte wieder zurückholen und neue aus dem In- und Ausland für diesen tollen Beruf gewinnen!

Das geht nur mit besseren Arbeitsbedingungen (an denen derzeit gearbeitet wird) und einer besseren Bezahlung – ich rede nicht von ein paar wenigen Prozenten mit Komma, sondern von mindestens 20 bis 30 Prozent! Vor allem in Ballungsräumen sind die Mieten für Pflegeberufsanfänger inzwischen nahezu unerschwinglich geworden. Ein Land wie Deutschland muss es sich leisten können, kranke Menschen adäquat zu behandeln. Ansonsten haben wir in zehn bis 20 Jahren niemanden mehr, der unsere Patientinnen und Patienten versorgt!

Die Politik muss hier aktiv werden und nicht passiv warten in der Hoffnung, einige Krankenhäuser werden schon schließen müssen, dann kann sich das Personal ja besser verteilen. Es ist noch nicht lange her, da waren wir in Deutschland stolz darauf, dass wir mehr Intensivbetten hatten als andere Länder. Außerdem muss die Finanzierung der Krankenhäuser sichergestellt werden, damit die Kliniken nicht mit den rapide steigenden Kosten (Energie etc.) allein gelassen werden.

Es muss alles dafür getan werden, dass unser tolles und einmaliges Gesundheitssystem aufrechterhalten und nicht kaputtgespart wird! In wenigen Jahren werden wir durch die Babyboomer-Jahrgänge noch viel mehr Patienten haben, welche wir behandeln müssen. Dies darf in einem Land wie Deutschland nicht gefährdet werden! Also zurück zu meiner initialen Frage: Behindern Politiker derzeit unser Gesundheitssystem? Antwort: Leider derzeit ja, denn zu wenig Aktivität stellt auch eine Form von Behinderung dar!

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