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2022-11-07 15:23:54 By : Ms. King Ding

D er Geräuschpegel auf der Baustelle ist enorm. Erzeugt wird er von großen, surrenden Ventilatoren und von verschiedenen kleinen Werkzeugen. Rund dreißig weiß vermummte Gestalten arbeiten an den stählernen, mit bunten Graffitizeichen versehenen Wänden oder an der Decke, einige stehen dabei auf einem mobilen Gerüst. Die Gesichter der Männer sind nicht zu sehen, denn sie tragen Schutzmasken mit Luftfilter. Eine Unterhaltung wäre auch dann nicht angebracht, wenn es leiser wäre, denn die aufwendigen Arbeiten, die hier ausgeführt werden, erfordern Konzentration und Geschick. Wer den Arbeitsplatz der Weiß gewandeten betritt, muss es ihnen gleich tun: ohne Einweg-Schutzoverall, Atemmaske und Helm darf niemand hinunter. Die einzigartige, 426,5 Meter lange Baustelle befindet sich unter Tage, tief unter der Elbe.

Hier wird ein Denkmal restauriert. Der alte St. Pauli Elbtunnel, 1911 eröffnet und 2001 als „Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst“ ausgezeichnet, wird zum ersten Mal in seiner Geschichte saniert. Das Projekt startete 1994, seit 2010 ist die Oströhre im Umbau. In der Weströhre, die von 2016 bis voraussichtlich 2019 an der Reihe ist, geht der Fußgänger-, Fahrrad- und Autoverkehr zwischen den Landungsbrücken und Steinwerder weiter. Die Baustelle ist abgeschottet, am Südeingang stehen Baucontainer, allerlei Materialien warten dort auf die Fahrstuhlfahrt nach unten.

Nebenan, im alten Kraftwerk Steinwerder, wo eine kleine Ausstellung zum St. Pauli Elbtunnel zu sehen ist, berichtet Projektleiter Hartmut Gräf, 59, vom aktuellen Stand der Grundsanierung. Der Bauingenieur arbeitet seit drei Jahren für die Hafenverwaltung Hamburg Port Authority (HPA), die den Tunnel betreibt, und schätzt die Herausforderung: „So ein Projekt gibt es nicht oft im Leben“.

Die Tunnelröhre ist bereits entkernt worden. Die Auskleidefliesen und die Schicht aus Drainbeton, die sich dahinter befand, wurden abgetragen. Jetzt liegen die sogenannten Tübbinge frei, aus denen die Außenhülle des Tunnels besteht. Dabei handelt es sich um genau 1671 ringförmig gebogene, 25 Zentimeter breite Stahlträger, deren jeweils sechs Kreissegmente miteinander vernietet und verschraubt sind. Undichte Schrauben und Nieten konnten von den Baufirmen bereits ersetzt werden. Jetzt, so Gräf, gehe es um die Bleifugen zwischen den Tübbingen. 37 Kilometer Fugenstrecke sind zu sanieren, denn das Material zeigte Beschädigungen und Undichtigkeiten, das Blei wurde faserig, begann zu korrodieren. Überlegungen, das giftige Schwermetall durch Kunststoff zu ersetzen, erwiesen sich als nicht praktikabel. „Wir müssen schon bei diesem alten System bleiben“, sagt Gräf.

Das bedeutet: Mit einem Nadelhammer werden die Fugen vorbehandelt, um anschließend mit neuem Blei ausgestopft und verstemmt werden zu können. Die Nadeln des Werkzeugs schießen einzeln nach vorn und lassen ganze Bleistückchen abplatzen, ohne dass die gefährliche Substanz staubt und dadurch in die Atemwege gelangen kann. Als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme neben der Schutzausrüstung werden bei den Arbeitern regelmäßige Blutuntersuchungen vorgenommen. Ein weiteres, laut Projektleiter, völlig unvorhergesehenes Bleiproblem sorgte bereits für einen zeitweiligen Baustopp: auch in dem hundert Jahre alten Beton wurde der Giftstoff angetroffen. Im Moment probieren Betontechnologen Rezepturen aus, um neuen, hochwertigen Drainbeton für die Zukunft des Tunnels zu entwickeln.

Experimente und unorthodoxe Lösungen erfordert die Renovierung des einst revolutionären, seit 2003 unter Denkmalschutz stehenden Gebäudes ohnehin. So mussten zum Beispiel, um den Auftrieb des Tunnels nach der Entfernung des Betons zu verhindern, 12.000 Tonnen Ballast-Steine von oben auf das Tunneldach gelegt werden. Auch, wenn demnächst die Instandsetzung der Fahrbahn ansteht, warten schwierige Aufgaben auf Ingenieure und Statiker. In der Straße nämlich liegen dicht an dicht etwa einen Meter lange, ultraschwere Stahlgewichte im Beton, die entfernt und gegebenenfalls durch Stahlplatten ersetzt werden. Man dürfe die alten Gewichte allerdings nicht herausstemmen, erklärt Gräf, denn die dynamische Belastung des Tunnels wäre dann zu groß. Statt dessen soll mit Wasserhöchstdruck gearbeitet werden.

Wer jetzt durch die Röhre geht, begibt sich noch auf einen Holzweg. Er bedeckt die Fahrbahn, an den Seiten sieht man die alten Bordsteine, die demnächst aus- und später wieder eingebaut werden. Unbedingte Wahrung der Authentizität des Tunnels fordert das Denkmalschutzamt. So befinden sich etwa die historischen Relief-Fliesen mit Flussfauna-Motiven gerade zur Restaurierung bei dem Fliesenexperten Hans Kuretzky in Borstorf bei Mölln und kehren anschließend überholt an die Tunnelwand zurück. „Wir haben die Denkmalschützer eingebunden, Bemusterungen haben stattgefunden“, sagt Gräf. Schließlich wolle man stilgerecht sanieren; manchmal sei das eine Gratwanderung, denn auch die Sicherheit nach TÜV-Vorgaben muss heute gewährleistet sein, moderne Technik wie Gasmelder und eine automatische Belüftung will integriert werden.

Die entkernte, von allem Zierrat befreite Tunnelröhre ist ein besonderer Ort. Durch den dunklen Stahlmantel wirkt sie enger, als ihre geflieste Nachbarin, weniger sicher. Wissend, dass zwischen ihm und den Elementen Erde und Wasser nur die Tübbinge liegen, wird sich der Tunnelbesucher stärker bewusst, dass er sich 21 Meter unter dem mittleren Hochwasserspiegel und mitten im Erdreich befindet.

Umso mehr beeindruckt die Leistung der Baumeister vor hundert Jahren: „Es ist insgesamt eine gute Bausubstanz“, lobt Gräf. 1907 begannen die Arbeiten an dem Meisterwerk. Vorbild war der Clyde-Tunnel in Glasgow, auch dort mündeten die beiden Tunnelröhren in Schachtbauten mit Lasten- und Personenaufzügen. Die Röhren wurden im Schildvortriebsverfahren erstellt, den durch die Vortriebsplatte schrittweise gewonnene Raum befestigte man unmittelbar mit den Stahltübbingen. Damaliger Grund für den Bau des Straßentunnels: die Hafen- und Werftarbeiter, die täglich die Elbe queren mussten, sollten vom unzulänglichen Fährverkehr unabhängig gemacht werden. Heute ist das Denkmal Arbeitsweg, Touristenmagnet, Ausstellungsraum der „Elb-Art“, Drehort und Marathonstrecke. Im Jahr 2012 nutzten 750.000 Fußgänger, 100.000 Radfahrer und 120.000 Autos die Unterführung.

Unter dem Strom haben die Bauarbeiter die hundertjährigen Stahlträger durchnummeriert und mit einem Markierungssystem versehen. So lassen sich, etwa „bei Tübbing 990, auf drei Uhr“ gezielt Arbeiten ausführen. Durch die bunten Sprühfarbezeichen wirkt der Tunnel wie ein modernes Kunstwerk: Elb-Art einmal anders. Die maskierten Männer, eingeteilt in zwei Schichten, führen unterschiedliche Arbeitsschritte gleichzeitig aus. So müssen alle Fugen mit dem Nadelhammer bearbeitet werden, die losen Teile, die bei der Ausnadelung anfallen, werden sofort weggesaugt. Sind die Fugen repariert, werden sie abschließend beschichtet, damit das Blei später nicht mit dem Beton in Berührung kommt. Das elastische Beschichtungsmaterial wird mit einer Spritzpistole aufgetragen und per Spachtel oder mit den Fingern verstrichen, überall stehen große, weiße Eimer mit der pechschwarzen Paste herum. Auf etwa 100 Metern Tunnellänge sind die Fugen schon fertig. Am Nordende der Röhre, bei Tübbing Nummer 1, ist es ruhiger, Gerüste, Spots, Eimer, Werkbänke und Staubsauger sind weiter nach Süden gerückt.

Die Fugen allerdings, die unter der schweren Straße liegen, werden erst bearbeitet, wenn wieder Beton an die den Wänden ist – „sonst haben wir ein Gewichtsproblem“, sagt Gräf. Schon jetzt wird die Tunnelbewegung allnächtlich kontrolliert, falls sie von der routinemäßigen, Tide bedingten Bewegung abweicht.

Bei diesem Projekt ist schließlich mit dem Unberechenbaren zu rechnen. So sollte die Renovierung ursprünglich bis zum Jubiläumsjahr 2011 abgeschlossen sein. Doch das Bleiproblem, der hohen Sanierungsaufwand bei den Fugen und die erst nachträglich beschlossene Überholung der Straße verlängern die Bauzeit. Auch die Kosten sind höher als erwartet, derzeit geht die HPA von rund 31 Millionen Euro pro Tunnelröhre aus. „Alles, was wir hier machen, sind spezielle Arbeitsgänge, die nicht geübt sind“, sagt Gräf. Übung kostet Zeit und Zeit ist Geld. Doch die Oströhre brachte wertvolle Erkenntnisse. „Was wir hier gelernt haben, werden wir auf die zweite Röhre übertragen. Wir wollen mit der Weströhre wesentlich schneller fertig sein“, sagt der Projektleiter nach dem Tunnelbesuch, und wirft seinen weißen Oneway-Overall in einen bereitstehenden Plastikmüllsack. Die laute Baustelle verschwindet hinter der Sicherheitsschleuse, im Fahrstuhl geht es aufwärts.

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